"Meine" Fünffingerlinde

aus: Johnnys Erzählungen

 

Kennt Ihr die Fünffingerlinde?

Kennt Ihr Odderade?

Was, nie gehört?

 

Tja, so ging es mir auch einmal.

Aber das ist schon einige Jahre her.

Heute ist sie sogar "meine" Fünffingerlinde!

 

Wollt Ihr wissen, wieso?

Ja?!

 

Gut, dann fange ich am besten ganz von vorne an:

 

Wie gesagt, es ist schon einige Jahre her. Damals war ich noch neu in Schleswig-Holstein. Und ich war erst seit einigen Monaten Richter am Landgericht Itzehoe. Ich erinnere mich genau, es war Mai, und es hatte tagelang geregnet. Das Wetter hob nicht gerade meine Stimmung, denn ich kaute an einem großen Problem. Wir verhandelten einen ziemlich verzwickten Mordfall an einer jungen Frau. Der Tatverdächtige beteuerte seine Unschuld. Dabei sprachen eine Reihe von Indizien durchaus gegen ihn. Ihr werdet sicher verstehen, dass ich aus Datenschutzgründen keine Einzelheiten erzählen kann.

 

Jedenfalls tat ich das, was ich immer mache, wenn ich einmal nicht mehr weiter weiß: Mir einen Platz suchen, wo ich in Ruhe nachdenken kann. Hierfür hat sich ein festes Ritual entwickelt: Ich setze mich in mein Auto und fahre irgendwo hin. Wo es mir gefällt, steige ich aus und wandere los.

 

Dazu packte ich mir auch an jenem Sonntag meinen inzwischen altersschwachen Rucksack, der auf meinem Rücken schon einige Kilometer zurückgelegt hat, mit etwas Proviant.

 

Diesmal war es also jener Mordfall. Und mein Weg führte mich nach Odderade. Eigentlich wollte ich an die Nordsee. So befuhr ich von Itzehoe die A23 Richtung Heide. In Albersdorf verließ ich die Autobahn und fuhr in Richtung Meldorf. Mein Straßenatlas zeigte diese Strecke mit grünen Punkten, was sie als schöne Straße auswies. Es war wirklich eine schöne Straße. Aber der Himmel sah mich eher trübe an, als dass er mich sonnig anlächelte.

 

Nach einigen wenigen Kilometern dachte ich: „Dann eben kein Meer“, und ich bog rechts ab, Richtung Sarzbüttel. Nach Sarzbüttel war ich plötzlich in Odderade. Der Name gefiel mir irgendwie. Ich fuhr durch ein hübsches Dorf. Heute weiß ich, dass dort dreihundert Einwohner leben. Und als nach circa anderthalb Kilometern eine Straße rechts in ein Waldstück führte, bog ich spontan dort ab. Nach einigen hundert Metern entdeckte ich links einen kleinen Parkplatz. Neben einer Messstation für Brunnen, wahrscheinlich zur Wasserversorgung des Ortes, stand ein kleines, unscheinbares, verwittertes Schild, das nach links zeigte. Darauf stand

 

"Zur Fünffingerlinde".

 

Buchstaben und Linde waren von Laienhand aufgemalt. Fünffingerlinde, was ist das denn? Was eine Linde ist, wusste ich ja zum Glück gerade noch, aber Fünffingerlinde? Neugierig geworden, lenkte ich mein Fahrzeug auf den Parkplatz, nahm mir meinen Rucksack und stieg aus. Dieser Linde wollte ich auf den Grund gehen.

 

Der Waldweg war durch den Regen ganz schön aufgeweicht und stellenweise waren dort sogar richtig große Pfützen, um die ich herumgehen musste.

 

Da sah ich sie plötzlich, die Fünffingerlinde. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wie sie wohl aussieht. Ehrlich gesagt, hatte ich sogar Angst, sie zu übersehen.

 

Die Fünffingerlinde sah, und dass tut sie zum Glück immer noch, wirklich genau aus wie eine menschliche Hand. Der kurze Stamm hat einen gewaltigen Umfang. Vier Meter schätzte ich, nachdem ich sie umrundet hatte. Der Stamm stellt die menschliche Handfläche dar. Davon gehen fünf Äste aus, die selbst so dick wie Bäume sind. Dabei steht der Daumen den anderen Ästen gegenüber, sodass es wirklich aussieht, wie eine hohle Hand, deren Fingerspitzen zum Himmel gerichtet sind.

 

Ich war beeindruckt!

 

Langsam meldete mein Magen Leere, in der Werbung nennt man so was „leichtes Hungergefühl“. Also beschloss ich, mich in die hohle Hand zu setzen und zu essen und zu rasten. Dieser Platz eignete sich, wie ich fand, ideal zum Nachdenken.

 

Da der Baum ziemlich bemoost war, breitete ich meine Picknickdecke, die ich immer dabei habe, in die Hand, setzte mich hinein und lehnte mich an. Das war gar nicht unbequem. Dann holte ich aus meinem Rucksack ein Croissant, ein Stück Käse und eine kleine Flasche meines Lieblingsrotweines. Aber wirklich nur eine ganz kleine Flasche, nicht dass ihr jetzt den Kopf schüttelt und entsetzt denkt: „Ein Richter und dann Alkohol und Autofahren?“ Hmh, war das lecker, und tat das gut. Ich fand meinen Sitzplatz richtig gemütlich, irgendwie fühlte ich mich wohlig geborgen. Dabei muss ich wohl eingeschlafen sein. Denn ich hatte einen merkwürdigen Traum:

 

Ein Mann kam an meinem Rastplatz vorbei, grüßte mich und setzte sich, ohne zu fragen neben mich. Mir fiel seine seltsame und ärmlich aussehende Kleidung auf. Der Mann war mit einer engen groben Stoffhose bekleidet, deren Hosenbeine in altmodischen Stulpenstiefeln steckten. Dazu trug er ein Hemd mit weiten Ärmeln und eine speckige braune Lederweste, die mit Schnüren geschlossen war. Er wirkte auf mich wie ein Musketier für Arme. Auch trug er sein schulterlanges Haar zum Zopf gebunden.

 

Ich wunderte mich zwar über sein seltsames Äußeres, dachte aber, dass es sich hier um eine Verkleidung für einen Festumzug handelte. Sei es für ein Schützenfest oder irgendeine andere dörfliche Brauchtumsveranstaltung. Damit kenne ich mich nicht so aus.

 

Dieser Fremde setzte sich also neben mich und ich bot ihm an, was von meinem Proviant noch übrig war. O. K., viel war es ja nicht, aber dankbar aß er alles auf.

 

Dann begann er zu erzählen.

Er erzählte mir, wie vor vielen Jahren an eben dieser Stelle, wo wir jetzt saßen, ein Mädchen erwürgt wurde. Es war von einer Tanzveranstaltung nicht nach Hause gekommen. Ein Suchtrupp fand genau hier den Leichnam des Mädchens. Die Tote lag da wie aufgebahrt. In ihren gefalteten Händen hielt sie einen Blumenstrauß. Während der Suchtrupp ratlos herumstand, kam ein Wanderer daher. Da er abgerissene Kleidung trug und plötzlich flüchtete, hielt man ihn für den Mörder. Schnell hatten sie ihn gefasst. Und im Anblick des toten Mädchens beschuldigte man ihn des Mordes. Der Mann aber beteuerte seine Unschuld, doch keiner glaubte ihm. Als einer verlangte, er solle vor Gott und allen Heiligen schwören, hob der Beschuldigte vor Schreck und Angst die linke Hand und schwor. Dieser Irrtum wurde als Gottesurteil ausgelegt und der arme Mann wurde an einer Linde aufgehängt.

 

Viele Jahre später stellte sich die Unschuld des Mannes heraus: Ein reicher Bauer, der im Sterben lag, beichtete dem herbeigerufenen Pastor, dass er das Mädchen damals erwürgt hat. Der Bauer hatte sich damals als Jüngling in dieses Mädchen verliebt. Sie wollte aber nichts von ihm wissen. Weil er sie rumkriegen wollte, war er ihr nachgeschlichen. Als er sie küssen wollte, hat sie ihn abgewehrt und um Hilfe gerufen. Da habe er zugedrückt.

„Sie sollte doch nur still sein. Ich habe sie doch geliebt“, stammelte der alte Bauer und Tränen liefen ihm über sein Gesicht. Dann starb er.

 

Der „arme Musketier“ beendete seine Erzählung und sah mich merkwürdig an. Dann stand er auf und wiederholte: "Er schwor mit der linken Hand", verabschiedete sich und ging.

 

Dann bin ich aufgewacht.

 

Einigermaßen verwirrt von dem so realistisch wirkenden Traum rieb ich mir die Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich packte meine Sachen wieder ein und ging zum Auto zurück. Mein Traum ließ mich nicht mehr los.

 

Auf der Hinfahrt hatte ich im Dorf einen Gasthof gesehen und ich beschloss, dort noch einen Kaffee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Einen Grund hatte ich ja: Schließlich musste ich meinen Proviant doch „teilen“.

 

Es war noch ziemlich früh am Abend und der Gasthof, der gerade erst geöffnet hatte, war noch fast leer. In einer Ecke saß ein älteres Ehepaar und verzehrte dick belegte Krabbenbrote, die echt lecker aussahen. Wahrscheinlich waren es Touristen. Sie beachteten mich nicht. Der Wirt hatte offensichtlich noch Zeit für einen Smalltalk oder Klönschnack, wie man hier ja wohl sagt. Deshalb erkundigte er sich, wo ich herkam und warum ich hier war.

 

So kamen wir ins Gespräch, und da er mir sympathisch war, erzählte ich ihm von meinem seltsamen Traum unter dem Baum. Da stutzte er auffällig, goss uns beiden einen Korn ein und sagte: "Geht aufs Haus." Wir prosteten uns zu und leerten die Gläser in einem Zug. Das tat gut. Wohlig erwärmte der Korn erst meine Kehle und dann meinen Körper.

 

Der Wirt holte tief Luft, beugte sich vor und sagte: "Sie haben die Sage der Fünffingerlinde geträumt. Es soll sich genauso zugetragen haben, wie sie es geträumt haben. Und bevor man den Strick zuzog, soll der Mann gerufen haben: Diese Hand hat vor Gott die Wahrheit geschworen, und weder ihr noch eure Nachkommen sollen dieses jemals vergessen! - Und später wuchs an der Stelle, wo man ihn verscharrt hatte, diese fünffingrige Linde, die sich noch heute wie eine zum Schwur erhobene linke Hand in den Himmel streckt." Dabei hob der Wirt seine linke Hand so, dass sie aussah, wie die Linde. Nach einer kurzen Pause fragte er mich: "Sind sie sicher, dass sie die Geschichte nie vorher gehört oder gelesen haben?" Ich bestätigte, dass ich bis zu diesem Tag nicht einmal von der Existenz dieser Linde gewusst hatte.

 

Durch den Anblick der Krabbenbrote bekam ich Appetit darauf. Ich bestellte mir eins und es schmeckte wirklich vorzüglich. Nachdem ich aufgegessen und gezahlt hatte, verabschiedete ich mich und fuhr nach Hause zurück. Nach diesem aufregenden Tag freute ich mich auf eine heiße Dusche.

 

Während mir das heiße Wasser über den Körper lief, wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte, wie ich meinen Problemfall lösen konnte.

 

Am nächsten Tag, in meinem Richterzimmer, nahm ich mir zuerst die Akte meines Problemmordfalles vor. Da stand es schwarz auf weiß: Die Tat konnte nur von einem echten Rechtshänder ausgeführt worden sein. Wieso war eigentlich bisher noch keiner darauf gekommen? So eine simple Lösung! Waren wir denn alle blind gewesen?

 

Ich ließ mir den Tatverdächtigen in mein Büro bringen. Dazu bestellte ich als Zeugen seinen Verteidiger und den Staatsanwalt, ohne den Dreien Näheres zu verraten. Ich bot ihnen Kaffee an und legte dem Verdächtigen unter einem Vorwand ein Blatt zur Unterschrift vor. Und ich hatte recht! Er war Linkshänder! Er nahm nicht nur die Tasse in die linke Hand, sondern er unterschrieb auch mit links. Daraufhin zeigte ich dem Staatsanwalt und dem Verteidiger die betreffende Stelle in der Akte. Beide staunten, und ich denke, dass es ihnen ganz schön peinlich war, dass sie diesen wichtigen Passus übersehen hatten.

 

Zugegeben, die Methode war etwas unorthodox. Aber sie funktionierte. Der Staatsanwalt hat daraufhin weitere Untersuchungen angestellt.

 

Der Mann war wirklich unschuldig! Er konnte unmöglich der Täter sein und war vollkommen rehabilitiert.

 

Seine Freude und das Strahlen in seinen Augen, als seine Unschuld bewiesen war, werde ich nie vergessen!

 

Am nächsten Sonntag trieb es mich wieder zur Fünffingerlinde.

 

Diesmal war es ein wunderschöner Sonnentag. Es war einer jener Frühlingstage, wo man glaubt, man könne den nahenden Sommer schon riechen. Wieder machte ich alles so wie am Sonntag vorher. Auch mein alter Proviantrucksack und meine Decke waren wieder dabei. Auch diesmal setzte ich mich in die hohle Hand der Linde.

 

Und da bemerkte ich etwas, das ich bei meinem ersten Besuch nicht gesehen hatte: In Augenhöhe entdeckte ich in der Rinde eine Wucherung, die aussah, wie ein knorriges, aber freundliches Gesicht. Und dieses Gesicht war das des Wanderers aus meinem Traum - und es zwinkerte mir mit seinem linken Auge zu.

 

Seit diesem Ereignis habe ich die Linde schon oft besucht.

 

Und egal, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter,

das Gesicht in meiner Fünffingerlinde zwinkert mir zu ...

 

Fast möchte ich behaupten,

es ist mir vertraut geworden,

wie ein guter Freund!

 

 

Das ist "meine" Fünffingerlinde
Das ist "meine" Fünffingerlinde